Ihr seid ja komisch.

“Was gibt es bei euch abends zu essen?” fragt mich das Mädchen mit der dicken Hornbrille.
In Gedanken versuche ich das Gericht zu übersetzen aber mir fällt keine passende Übersetzung ein, also suche ich nach einer Umschreibung.
“Eine Suppe mit Kartoffeln, Gemüse und Nudeln.” Die Hühnerherzen verschweige ich mal vorsichtshalber.
“Klingt irgendwie eklig. Also ich könnte abends keine Suppe essen. Habt ihr denn kein Abendbrot? Also bei uns gibt es immer Vesper.”
“Nein.”
“Ihr seid ja komisch.”


Mängelexemplar.

Anfang des Jahres geht immer eine Liste mit unseren Namen und Geburtsorten durch die Tischreihen. Ein Ort sticht meistens hervor. Der Moment, wenn sich viele Köpfe nach mir umdrehen. Und sie kichern und zum zehnten Mal fragen, wo das denn liegen soll. Und ob es diesen Ort überhaupt gibt.
So einen komischen Geburtsort.

Mängelexemplar.

“Stellt ihr denn an Weihnachten keinen echten Baum auf?”, fragt das Mädchen mit dem blonden Zopf.
“Nein unserer ist aus Plastik.”
“Aber ein echter Baum ist doch viel schöner.”
“Mag sein aber wir schmücken unseren ganz bunt und dann ist er auch sehr schön.”
“Also wir schmücken unseren Baum immer in einer bestimmten Farbe. Meine Mama findet bunte Weihnachtsbäume geschmacklos und kitschig.”

Mängelexemplar.

Ein Stempel, der den vorhandenen Meter zwischen diesem Buch und dem Regal mit den Bestsellern plötzlich zu Lichtjahren werden lässt.

Da liegt es also rum. Es sind keine vergilbten Stellen zu erkennen und auch das Cover ist ganz ansehnlich. Und trotzdem gibt es diesen einen Stempel an der unteren Schnittkante. Dieser Stempel, der das Buch für alle anderen Kunden in dem Kaufhaus scheinbar ganz und gar unattraktiv werden lässt. Ein Stempel, der den vorhandenen Meter zwischen diesem Buch und dem Regal mit den Bestsellern plötzlich zu Lichtjahren werden lässt.

Mängelexemplar.

Mängelexemplare

Was die anderen Kunden eher abschreckt, zieht mich magisch an. Zunächst einmal weil es ein Buch ist, das ich mir als Jugendliche von meinem Taschengeld leisten kann und weil ich es mit den Bestsellern bereits versucht hatte. Nein, wirklich. Meistens waren sie für mich eine Enttäuschung: Banal, gehypt, unter berühmten Namen mit einem Cover, das in der Regel vielversprechender war als der Inhalt. Für mich war diese Kombination meistens das Garantie Rezept für eine Enttäuschung. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Aber bei Mängelexemplaren war es jedes Mal ein Abenteuer. Wo war denn nun dieser Mangel, wo lagen denn nun die Fehler? Wo haben sie sich versteckt? Ich habe sie bis heute nicht entdecken können aber dafür meine Lieblingsautoren und Bücher gefunden. Es war nie meine Absicht nach Mängelexemplaren Ausschau zu halten doch die Bücher in der Ramschkiste haben mich fasziniert. Kann Ehrlichkeit überhaupt ein Mangel sein?

Vielleicht weil Schätze niemals offensichtlich rumliegen, nicht präsentiert werden.

Auch heute noch sind es eher die unbekannten Filme, die mich fesseln. Und die Bücher vom Flohmarkt, die keiner haben will. Es ist die Musik, nach der ich nicht gesucht habe, und nicht weiß, ob sie meine Therapie ist oder ob ich nach dem anhören eine Therapie brauche. Mit anderen Worten: Ich habe ein Herz für Mängelexemplare, für das Unbeliebte, das Vergessene, das Verlassene, das Abtrünnige, das Zurückgelassene und Kaputte, für das Weiche im Harten. Vielleicht weil Schätze niemals offensichtlich rumliegen, nicht präsentiert werden. Nach Schätzen sucht man. Sie haben eine Geschichte, eine Vergangenheit. Das macht sie so wertvoll.
Meine Seele entwickelte eine Abneigung gegen den Mainstream, noch bevor sie wusste, das es für all die Dinge, die mich nicht interessieren, tatsächlich ein Wort gibt. Das war zu einer Zeit in der es alles andere als cool galt, anders zu sein.

Mängelexemplare

Und dennoch drehte sich meine Kompassnadel stets zu den Unbeliebten, den Unverstandenen, den Mängelexemplaren.
Denn ich bin selbst eins. Ein Mängelexemplar. Voller Kratzer und Gebrauchsspuren in der Seele, eigenartiger Ängste und schwer einzuordnenden Eigenschaften. Ein heimatloser kleiner Alien im Menschenkostüm. Es hat sich jedoch heutzutage in der Gesellschaft, in der ich lebe, scheinbar etwas verändert. Es ist ok anders zu sein. Plötzlich ist es sogar erstrebenswert. Aber in welchem Ausmaß es ok ist, anders zu sein, unterliegt dennoch einem strengen, gesellschaftlichen und medialem Diktat.

Das hat wohl wenig zu tun mit den wahren, ungefilterten Schätzen, denen man im echten Leben begegnet. Und vielleicht sind es gar nicht die Mängel, die mich so faszinieren, sondern das Gefühl ein Stück roher Wahrheit in den Händen zu halten, das in seiner Unvollkommenheit zu etwas besonderem wird. Und vielleicht weil ich mich dabei aufgefordert fühle, Rücksicht auf meine eigene Meinung zu nehmen.

Mängelexemplare