Die Begegnung

Ich habe da diese eine alte Freundin, die ich bereits aus frühen Kindertagen kenne. Eine Freundin, auf die ich mich schon seit ich denken kann, immer verlassen konnte. Sie tauchte irgendwann einfach so zwischen bunten Bauklötzen, vergessenen Hausaufgaben und meinen Plüschtieren auf. “Hi, ich bin Sam” sagte sie damals und pflanzte sich plump und alles andere als grazil neben mich. Angeekelt schaute sie sich in meinem alten Kinderzimmer um.

“Also, wenn du schon, anstatt draußen mit den anderen Kindern zu spielen, hier drinnen alleine abhängst, könntest du dich wenigstens um deinen Scheiß Kaktus kümmern. Der vegetiert ja nur noch vor sich hin.” Meine Augen wanderten zu meinem Kaktus Fred, der tatsächlich etwas verkümmert aussah. Ich mochte Sam auf Anhieb und seitdem sind wir unzertrennlich. Wir sind gemeinsam ausgebüxt, haben Zelte aus Decken und Kissen gebaut und unsere Zukunft ausgemalt. Wenn mich damals in der Schule niemand im Volleyball Team dabeihaben wollte, blieb Sam immer an meiner Seite.

Meine Freundin namens Sam

Durch sie kam ich erst mit der Welt der Kunst und Literatur in Berührung. In der Stille verschlangen wir ein Buch nach dem anderen und versanken in der bunten Welt des Fernsehers. Zeichneten unablässig, schrieben Gedichte über den Weltschmerz und natürlich über gebrochene Herzen. Denn darin waren wir selbst erkorene Meisterinnen. Und ein ziemlich gutes Team. Dachte ich zumindest. Dabei wollte ich eigentlich nie mit Sam befreundet sein. Am Anfang will niemand mit Sam befreundet sein. Sie kann nämlich ganz schön aufdringlich werden. In noch jede mögliche Lücke meines Lebens kriecht sie hinein. Und wenn ich mich mal wieder in falscher Gesellschaft befinde, macht sie die Stille unerträglich laut. Als würde sie mir sagen: “Siehst du, wärst du mal lieber zuhause geblieben und hättest dir das oberflächliche Geplänkel dieser Schnarch-Nasen erspart!”

Denn was Sam so gar nicht leiden kann, ist öder Smalltalk und Unaufrichtigkeit. Jedes Mal verdreht sie dann die Augen und führt ihren Zeigefinger wie eine Pistole an den Kopf: “Peng!” Nervtötende Menschen hält sie sicherheitshalber auf Distanz. Und das liebe ich an ihr. Wenn Freunde mich versetzt haben, hat Sam mich nie im Stich gelassen. Dennoch wollte ich sie manchmal loswerden. Und suchte den Kontakt zu anderen. In Gesprächen mit ihnen habe ich stets das gesagt, von dem ich dachte, dass sie es hören wollten. Nur um nicht wieder bei Sam zu landen.

Ich bin sogar auf Reisen gegangen. Doch Sam ist mir auch um die Welt ständig gefolgt und erschien in den unpassendsten Momenten. Momente, in denen ich glücklich sein sollte, aber es nicht war. Sam lügt nämlich nie. Sie kann es einfach nicht. Hat es nie gelernt. Darum liebe ich ihre Gesellschaft. Aber manchmal schnürt ihre Anwesenheit mir die Kehle zu.

Meine Freundin namens Sam

Über Sam spricht niemand gerne. Wenn ich dann mal ohne sie unterwegs bin, bestraft sie mich beim nächsten Treffen mit der lautesten Stille, die es auf der Welt gibt. Stiller als eine Wüste je sein kann. Manchmal genieße ich ihre Anwesenheit, obwohl sie mir nicht gut tut. Aber irgendwann wurden ihre Besuche immer seltener. Je erfüllter ich meinen Alltag gestaltete, desto seltener ließ sie sich blicken. Lange Zeit habe ich sie nicht mehr gesehen. Ihre Lieblingsjahreszeit ist der Winter. Als sie dann an einem kalten November Tag wiederauftaucht, merke ich wie alt und müde sie geworden ist. All die Falten um ihre traurigen Augen erinnern mich an eine Landkarte, die irgendwo in einer Ecke vergessen worden ist. Mit all den Ländern, die nie bereist worden sind.

“Du hast abgenommen Sam.” Mir fällt ein, dass wir schon lange nicht mehr gemeinsam gegessen haben. Sam ist nicht sonderlich gesprächig, war sie nie und trotzdem hat sie in der Regel mehr zu sagen als die Menschen, die ständig den Mund aufmachen aber nichts Vernünftiges formulieren können.
Nach all den Jahren fällt mir ein, dass ich Sam’s vollständigen Namen gar nicht kenne. Sam ist ihr zweiter Name, so viel weiß ich noch.
“Komm mich doch einfach mal besuchen.” schlägt sie vor. Und mir wird bewusst, dass ich sie noch nie besucht habe. “Wo wohnst du denn?” “Ach, mal hier, mal dort. Das weißt du doch. Kannst ja einfach Ausschau halten. Du findest mich zwischen den Zeilen.” Das ist mal wieder so typisch für sie. Das Telefon klingelt und als ich mich umdrehe, ist Sam bereits über alle Berge.

Meine Freundin namens Sam

An einem kalten Wintertag beschließe ich nach ihr zu suchen. Zwischen all den sich anschweigenden Gesichtern in der klapprigen Straßenbahn entdecke ich sie dann. Sie steigt an einer dieser Haltestellen aus, an denen man nachts lieber nicht ohne Pfefferspray unterwegs sein sollte. Aber es ist Tag und eine blasse November Sonne hängt verloren in den kahlen Ästen.
Sam eilt blitzartig davon. Schnaufend versuche ich sie einzuholen, aber sie ist mir mal wieder einen Schritt voraus. Wie mein Herzschlag. Plötzlich rollt ein roter Ball vor meine Füße. Ich bücke mich und hebe ihn auf, als mich ein Paar großer dunkler Augen anblicken. In ungefähr einem Meter Abstand steht vor mir ein kleines zerzaustes Mädchen in rosa Jacke voller Flecken. Im Hintergrund quietscht der wohl trostloseste Spielplatz der Welt.

“Hast du mit deinen Freunden Ball gespielt?” frage ich die Kleine, die nur enttäuscht mit dem Kopf schüttelt. Und ich verstehe. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet das Mädchen auf ein Gebäude.
“Da wohnt meine Freundin,” sagt sie. Mein Blick wandert auf einen grauen Plattenbau. Lautes Geschrei und Streit ist aus den Fenstern zu hören. Geruch von altem Frittierfett und Zwiebeln dringt durch die Eingangstür.
Das Mädchen hat sich inzwischen wieder dem Ball zugewendet und wirft ihn gegen die Hauswand. Ganz alleine. Die Luft ist so kalt, dass mein Atem sich in kleine Wölkchen verwandelt. “Du bist wirklich überall Sam.” Meine Augen streifen das Klingelschild.

Das Klingelschild zwischen den Zeilen, mit dem Namen, den ich so lange verdrängt habe: Ein Sam Keit
Hier wohnst du also auch, meine liebe Sam.
Mein Finger ist kurz davor daraufzudrücken aber im letzten Moment beschließe ich nicht zu klingeln. Stattdessen fange ich den Ball. Das kleine Mädchen mustert mich zunächst verdutzt, fängt aber auch gleich an mit mir zu spielen. Und mit jedem Wurf wird Sam auf einmal ein bisschen kleiner. Und mit jedem Aufprall gibt es nur noch Zeilen, die genauso gemeint sind. Ganz verschwinden wird Sam wohl nie. Aber das ist auch ok. Denn keine andere Begegnung hat mich jemals so stark gemacht wie die mit ihr.

Meine Freundin namens Sam