Evas Geschichte

„Verzeihen ist die schwerste Liebe“ Albert Schweizer

Wenn ich an das Thema Verzeihen denke, dann erinnere ich mich immer wieder an die Geschichte von Eva Mozes Kor. 1944 wurde sie mit ihren drei Schwestern und ihren Eltern nach Auschwitz deportiert. Fast die ganze Familie musste in Ausschwitz ihr Leben lassen. Sie wurden gnadenlos ermordet. Eva Mozes Kor und ihre Zwillingsschwester überlebten nur, weil sie für die grausamen Menschenexperimente von Josef Mengele missbraucht worden sind. Heute gehört Eva zu den letzten Holocaust-Überlebenden. Sie ist eine der wenigen lebenden Zeitzeugen, die das Unvorstellbare durchgemacht haben. Und sie hat vergeben, was wohl als unverzeihlich gilt. Nach dem Tod ihrer Schwester im Jahr 1993 besuchte sie einen ehemaligen Nazi-Arzt in Bayern, der sie freundlich empfing.

Sie war überrascht über den respektvollen Umgang mit ihr und vor allem war sie über noch etwas ganz anderes überrascht: Plötzlich empfand sie Sympathie für ihn. Daraufhin fragte sie ihn etwas, das ihr schon lange auf der Seele brannte: „Wissen Sie irgendetwas über die Gaskammern? Sind Sie da vorbeigekommen, waren Sie drinnen?“ Und er antwortete: „Genau das ist mein Problem. Das ist der Albtraum, mit dem ich jeden Tag meines Lebens lebe.“ Danach schilderte er seine Erinnerungen im schockierenden Detail. Wie er die Vergasungen Tag für Tag gesehen und dokumentiert hat. Und er war bereit die Kriegsverbrechen zu bezeugen. Nach dem aufrüttelnden Treffen fuhr Eva zunächst wieder nach Hause und reflektierte die Begegnung, die in ihr etwas ausgelöst hat. Dabei kam sie zu einem Entschluss, der bedeutend für ihr Leben sein sollte: Sie entschied sich dazu, dem ehemaligen Nazi Arzt einen Brief zu schreiben. Und noch viel mehr: In diesem Brief hat sie ihm verziehen. Damit entdeckte sie für sich persönlich ein Geschenk, eine Macht, die sie davor noch nicht wahrgenommen hat: Die Macht zu vergeben. Eine Kraft, die es ihr ermöglichte, sich nicht mehr als Opfer, sondern als handelnde eigenständige Person zu sehen.

Am Rande des Lüneburger Auschwitz-Prozesses gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning im Jahr 2015 reichte sie Gröning die Hand, der sie daraufhin umarmte. “Ich bin keine bemitleidenswerte Person, ich bin ein siegreicher Mensch, dem es gelungen ist, den Schmerz hinter sich zu lassen.”, erklärte Eva Mozes Kor. Ihre öffentliche Entscheidung traf jedoch auf viel Kritik und Unverständnis seitens vieler anderer KZ-Überlebender. In einer entsprechenden Erklärung der Anwälte der Nebenkläger liegt vor: “Nebenklägerin im Namen der Ermordeten zu sein und diese Rolle zur öffentlich inszenierten persönlichen Verzeihung zu nutzen – das passt nicht zusammen.” Aber Eva Mozes Kor steht zu ihrer Entscheidung. Sie hat nicht im Namen anderer Opfer vergeben, sie hat lediglich in ihrem eigenen Namen verziehen. Um Seelenfrieden zu finden, um aus der Opferrolle hinauszutreten und hineinzutreten in ein selbstbestimmtes Leben. Ihre persönliche Entscheidung polarisiert und inspiriert. Für sie bedeutet er einen großen Schritt in die eigene Freiheit. Den Nazis habe sie „verziehen, nicht weil sie es verdienen, sondern weil ich es verdiene”, sagte sie.

Vergebung kommt von innen: Warum Verzeihen uns stark und unabhängig macht

In den zwischenmenschlichen Beziehungen suchen wir Erfüllung. Jeder Mensch hat gewisse Erwartungen an andere Menschen oder an das Leben selbst. Dazu kommt noch ein gesellschaftliches oder auch ein individuelles Gerechtigkeitsempfinden. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt oder fühlen wir uns gar ungerecht behandelt, führt das zu persönlicher Kränkung, Wut, Traurigkeit, Schmerz und Aggressivität. Es ist eine ganze Palette an negativen Emotionen, die dabei ausgelöst werden kann. Je tiefer sich jedoch ein Mensch in die Spirale dieser negativen Gefühle verstrickt, desto unwahrscheinlicher und unzugänglicher erscheint ihm ein glückliches Leben. Man trägt förmlich das Gewicht all dieser schweren und traurigen Emotionen auf seinen Schultern. Doch das Verzeihen kann eine Möglichkeit sein, die Kränkung oder tiefe Verletzung anzunehmen. Mit dem Verzeihen löst sich der Mensch aus der Opferrolle und wird wieder zum Gestalter seines eigenen Lebens. Kein furchtbarer Vorfall, keine Kränkung, kein Schmerz führt mehr die Oberhand, sondern der Mensch selbst.

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern aber es kommt darauf an, ob man den schmerzhaften Erfahrungen permanent Platz in der Gegenwart gewähren möchte, ihnen sogar die Zukunft widmet oder ob man eventuell bereit ist, zu verzeihen und sich dabei selbst aus dem bedrückend, emotionalem Konstrukt zu befreien. Denn Verzeihen bedeutet Loslassen. Es kann befreiend und erlösend wirken. Es bedeutet jedoch nicht zu vergessen, es bedeutet auch nicht das, was geschehen ist, in irgendeiner Weise zu billigen oder gutzuheißen. Es ist in erster Linie ein Geschenk, das du dir selbst machen kannst. Verzeihen geht nur freiwillig. Es kann und darf nicht forciert werden. Weil jede Geschichte um Vergebung sehr individuell, komplex und schmerzhaft sein kann, ist die Entscheidung zu verzeihen, eine der persönlichsten Angelegenheiten des Lebens. Denn Verzeihen kommt von innen oder gar nicht. Vergebung hat eine heilende Wirkung auf Körper, Geist und Seele. Jemandem zu verzeihen, kann dir bewusst machen, dass du der Gestalter deines eigenen Lebens bist und nicht ein Täter, der dir auf irgendeine Weise wehgetan hat oder dich gekränkt hat.

Verzeihen braucht Zeit

Wenn Verzeihen im Schnelldurchgang gehen würde, dann wäre die Sache schon um einiges leichter. Verzeihen ist jedoch kein einfacher Prozess. Ganz im Gegenteil, Verzeihen ist komplex und erfordert viel Mut, Achtsamkeit und eine behutsame Vorgehensweise. Jemanden zu verzeihen braucht Zeit. Und sich diese Zeit zu lassen, ist nur menschlich. Wie lange man sich dabei Zeit lässt, ist von Mensch zu Mensch völlig unterschiedlich und ganz individuell. Je tiefer die Wunden sind, desto länger und schwieriger ist die Zeit, bis man wirklich dazu bereit ist zu vergeben. Sei liebevoll zu dir selbst, dränge dich nicht zu einem Schritt, der sich eventuell noch nicht ganz richtig anfühlt. Vielleicht wird er sich auch niemals richtig anfühlen. Aber auch das ist ok. Wie bereits erwähnt, kann Verzeihen nicht beschleunigt oder forciert werden. Doch das Geheimnis etwas zu empfangen, liegt im Loslassen. Es kann eine Lebensaufgabe sein. Und sich ihr zu stellen, zeugt von Mut und unglaublicher Kraft. Es ist die Kraft, die in jedem von uns steckt, wenn wir wissen, dass so lange wir leben, wir immer fähig sind, etwas zum Positiven zu ändern.

Aus dem Schmerz wachsen

Wir wachsen zwar aus dem Schmerz aber wir brauchen nicht unbedingt den Schmerz, um zu wachsen. Viel mehr kann der Schmerz in etwas Heilendes verwandelt werden, wenn wir ihn als solchen erkennen und einsehen, dass wir gar nicht leiden müssen. Du kannst dich bewusst gegen das Leiden entscheiden. Mach dir klar: Was genau und wo genau tut es weh? Und ist die Ursache für den Schmerz wirklich noch präsent in der Gegenwart oder lediglich die Erinnerung daran? Welche Macht hat dieser Schmerz über dein Leben und warum? Wie viel Macht gestehst du selbst dem Schmerz ein? In dir ist alles vorhanden, was du benötigst, um den Schmerz zu überwinden und ihn hinter sich zu lassen – und noch viel mehr: In dir ist die Kraft den Schmerz in etwas Schönes zu verwandeln, was eventuell sogar dein persönliches Leben bereichern kann. Ja, der Schmerz hat dich gelehrt aber welche Informationen ziehst du daraus?

Wenn du verbitterst, schadest du nur dir selbst, dann kann nichts Fruchtbares aus dem Schmerz wachsen aber wenn du den Schmerz als Erfahrung akzeptierst, so furchtbar sie auch gewesen sein mag, lässt du sie hinter dir und kannst deine Wunden heilen. Du gestehst dir wieder deine Macht und Verantwortung über dein eigenes Leben ein. Und du wächst über diese Erfahrung hinaus weil du viel mehr bist, als jede schlechte Erfahrung, weil du viel mehr bist als jeder Schmerz.

Schreiben, was weh tut – deinen Emotionen Raum bieten

Im Fall von Eva Mozes Kor war es ein Brief an einen Menschen, der an der Maschinerie des unvorstellbaren Leids mitgewirkt hat. Aber eigentlich war es auch ein Brief an sie selbst. Daher schreib auch du auf, was dich belastet, was du denkst, schreib auf, was weh tut, schreib auf, ganz egal wie laut und erschreckend deine Gedanken sind. Deine Emotionen sind menschlich. Verurteile dich nicht dafür. Sammle sie, fasse sie zusammen, versuche sie zu verstehen. Du kannst dem oder den Menschen, die dir Unrecht getan haben, schreiben. Diesen Brief musst du nicht einmal abschicken. Was würdest du ihnen gerne sagen und warum? In dem du es zu Papier bringst, kannst du dich Wort für Wort ein bisschen mehr befreien. Nur für dich und nur deinetwegen.

Schwer aber wichtig: Sich selbst zu vergeben

Am schwersten fällt es vielen Menschen, sich selbst zu vergeben. Denn sich selbst zu verzeihen, bedeutet auch sich einzugestehen, dass wir fehlbar sind. Fehler gehören zum Leben dazu aber ihre Tragweite kann ganz unterschiedlich sein. Die Schuld begleitet viele Menschen wie ein unablässiger Geist, der immer da ist und einen womöglich sogar ein ganzes Leben lang verfolgen kann. Das führt häufig dazu, dass man Groll und Abneigung gegen sich selbst empfindet. Aber so weit MUSS es nicht kommen. Es ist wichtig sich zu verinnerlichen, dass Schuldgefühle nichts bringen – Weder machen Schuldgefühle etwas ungeschehen, noch sind sie eine Garantie, um zukünftige Fehler zu vermeiden. Starke Schuldgefühle sind ungesund für alle Betroffenen und Angehörige. Sie können zum Teufelskreis werden, außerdem führen sie dazu, dass Betroffene sich wertlos fühlen und sich selbst nicht mehr achten könnten.

Die Art wie jemand mit Schuld umgeht, hängt daher sehr stark mit seinem Selbstwertgefühl und Selbstbild zusammen. Es hilft in einen liebevollen Dialog mit sich selbst zu treten, sei es in Form von einem Brief an sich selbst oder in einem Tagebuch. Es kann helfen, sich den Fehler einzugestehen aber auch zu reflektieren, warum man eine bestimmte Handlung als Fehler betrachtet. Du solltest dich nie nur auf einen einzigen Fehler reduzieren, du bist ein großes Ganzes. Nicht dein Verhalten, deine Taten und Fehler aus der Vergangenheit definieren deine Persönlichkeit, sondern deine bewussten Entscheidungen im Hier und Jetzt. Du bist stark und brauchst diese Stärke vor niemandem zu verheimlichen. Auch nicht vor dir selbst.